Kein Denkmal für Magnus Hirschfeld?
 Gedenken   
Kein Denkmal für Magnus Hirschfeld?
Replik von Andreas Pretzel  


Neuguß der Hirschfeld-Büste von Harald Isenstein

Neuguß der Hirschfeld-Büste von Harald Isenstein




































Martin Dannecker enthüllt die Gedenksäule für Hirschfeld

Martin Dannecker enthüllt die Gedenksäule für Hirschfeld



































Helmut Kentler bei der Enthüllung des Denkmals im Tiergarten, 6.7.1994

Helmut Kentler bei der Enthüllung des Denkmals im Tiergarten, 6.7.1994

Im Internet finden sich zahlreiche Polemiken von Peter Kratz, in denen er die Arbeit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft kritisiert, er sitzt dabei auch über Magnus Hirschfeld (1868-1935) als historischer Person zu Gericht. Die entstellenden Halbwahrheiten seiner Polemik, die ein Lebenswerk diffamieren und aus dem Gedächtnis zu tilgen suchen, sollen nicht unwidersprochen bleiben.
Wir dokumentieren im folgenden Auszüge einer Replik von unserem Mitarbeiter Andreas Pretzel auf die Polemik von Peter Kratz (»Der Streicher des Sex« in >>KONKRET 4/2000). Die Replik erschien als Leserbrief in KONKRET 6/2000. Von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft wird zur Zeit eine Textsammlung zur kritischen Hirschfeld-Rezeption vorbereitet. Peter Kratz hat unsere Bitte, auch seine Beiträge in den Band aufzunehmen, widersprochen.


Replik von Andreas Pretzel:
Kein Denkmal für Magnus Hirschfeld?

(...)
1897 gründete Hirschfeld mit einigen Mutigen das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee" (WhK), das sich für die Abschaffung des Paragraphen 175 einsetzte. Der Verein unter seiner Leitung bildete eine bedeutsame Initiative für die Entstehung der Homosexuellenbewegung in Deutschland. Sie verband sich mit seinem Namen, wenngleich seine Emanzipationsstrategie - "Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit" -, auch in der Homosexuellenbewegung nicht unumstritten war.

Hirschfelds wissenschaftliches Wirken zielte u. a. darauf, Homosexualität zu entstigmatisieren. Das hieß für ihn, sie vorurteilsfrei als "Spielart der Natur", als vorherbestimmtes Schicksal des Einzelnen anzuerkennen und ihr einen neuen Platz in der biologischen Ordnung und einem neuen Wertesystem zuzuweisen. Der Mediziner Hirschfeld hat zu diesem Zweck an der Etablierung einer neuen Fachdisziplin, der Sexualwissenschaft, mitgewirkt. Er hat ihr eine "Zwischenstufentheorie" mitgegeben, die ein Universum sexueller Varietäten eröffnete und die als seine fachspezifische Hauptleistung angesehen werden kann. Danach gäbe es keine starre Geschlechtertrennung, weder "Vollweib" noch "Vollmann", sondern "Zwischenstufen" als individuelle, "natürliche" Mischungsverhältnisse von körperlichen, psychischen, psychosexuellen und psychosozialen Eigenschaften. Homosexualität siedelte Hirschfeld im Übergangsfeld vom Männlichen zum Weiblichen (und umgekehrt) an. So befremdlich mitunter seine Klassifikationen und manche seiner mitschwingenden patriarchalen Wertungen heute erscheinen mögen, sie waren angesichts der am Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Meinungen in Psychiatrie, Kriminologie, christlicher Ethik und einer rigiden Geschlechterhierarchie der wagemutige Versuch einer Neubestimmung und Neubewertung. Sein Vorsatz, dies auf einem objektiven naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch zu begründen, war bereits seinerzeit umstritten und stieß bei Fachkollegen wie bei Mitstreitern der Homosexuellenbewegung auf Skepsis bis hin zu schroffer Ablehnung. Dem Individualanarchisten Adolf Brand z.B., ausgesprochener Widersacher von Hirschfelds Emanzipationsstrategie, schien die Vorstellung, eine mann-weibliche "Zwischenstufe" zu verkörpern, schier unerträglich. Brand und der von ihm geleitete "Bund der Eigenen" - nicht aber Hirschfeld, wie Kratz suggeriert - bevorzugte im Anklang an Blühers Wandervogelschrift den "jugendlichen männlichen Helden".

Der Biologismus nach der Jahrhundertwende war eine Antwort auf die christliche Bevormundung wissenschaftlicher Erkenntnis- und moralischer Wertungsmöglichkeiten. Hier liegt der Beweggrund, warum Hirschfeld zum Freidenker und zum Vertreter einer "Neuen Ethik" wurde, die sich naturwissenschaftlich-biologisch zu begründen suchte und in der zeitweiligen Modephilosophie des Monismus beredten Ausdruck fand. Darwin, Haeckel und nicht zuletzt Nietzsche wurden zu Leitfiguren einer neuen säkularen Weltanschauung bei einem Großteil bürgerlich-liberaler Intellektueller, wenngleich deren Denkansätze zu neuen problematischen Heilsversprechen führten.

In Kratz' Polemik ist allerdings von den zeitgenössischen Voraussetzungen für das Denken und Handeln keine Rede - vom Widerstreit der Anschauungen, von Entwicklungen, von der Gewinnung neuer Erkenntnisse wie der Überwindung von Irrtümern schon gar nicht. Mehr noch, Hirschfelds Lebensleistung wird von Kratz lediglich auf einen Aspekt seines Denkens - die eugenischen Auffassungen - reduziert, indem er sie zum "zentralen Inhalt von Hirschfelds Lebenswerk" erklärt. Zentrale Werkbelege dafür bleibt er schuldig. Statt dessen verweist er auf die eugenischen Auffassungen von Hirschfelds Mitstreitern und bringt sie in Zusammenhang mit eugenisch-rassehygienischen Auffassungen ihm fernstehender bzw. feindlich gesonnener Forscher. Selbst bei seinem Hauptthema, der Eugenik, weiß Kratz nicht zu differenzieren. Sein pauschales Verdikt verstellt ihm den historischen Blick. Gerade seine Perspektive auf Gesundheits- bzw. Bevölkerungspolitik hätte ihm bei mehr historischem Erkenntniswillen aber Einblick gewähren können in die vielfältigen Positionen und sozialpolitisch unterschiedlichen Bestrebungen, wie eine Vielzahl historischer Arbeiten der letzten Jahre belegen. Hirschfeld hat sich im Interesse einer eugenischen Gesundheitspolitik und Aufklärung entschieden gegen rassenhygienisch-bevölkerungspolitische, insbesondere rassistisch-wertende Bestrebungen gewandt.

Angesichts der wilden Fortpflanzungsspekulationen und Degenerationsängste im Kaiserreich und der mörderischen Konsequenzen, zu denen rassenhygienische Zielstellungen - zur Staatsdoktrin erhoben und in den Dienst einer Ausmerze gestellt - in der NS-Zeit führten, bedarf es der zeithistorischen Einordnung bevölkerungspolitischer Initiativen, um angemessene Wertungen zu treffen. Damit kein Zweifel aufkommt: Hirschfelds eugenische Auffassungen sind nicht zu relativieren. Aber wer Hirschfeld zum "Streicher des Sex" erklärt, relativiert die verbrecherische Gesinnung und historische Verantwortung von NS-Tätern wie Julius Streicher. Es verstellt geradezu eine deutliche Kritik an den eugenischen Bestrebungen von Hirschfeld und anderen reformbewegten Bildungsbürgern. Wenn man geschichtliche Entwicklung und wissenschaftliche Forschung ernsthaft begreifen, deuten und bewerten will, insbesondere die Praxis der gesundheitspolitischen Einflußnahme im Kontext weltanschaulichen, sozialpolitischen und ethischen Widerstreits, dann gehört dazu eine Perspektive, die Gesellschaft und Politik im Weitblick erfaßt und nicht einen beschränkten Ausschnitt, wie Kratz ihn in bürgerlich liberalen Kreisen und am rechten Rand der Sozialdemokratie aufsucht. Bezeichnend dafür ist, daß Kratz führende Vertreter der Rassenhygiene, die den politisch rechten, christlich konservativen oder gar den explizit völkisch-rassistischen Flügel der Eugenik/Rassenhygiene vertraten, in seinem Text gar nicht nennt. Gerade bei ihnen aber läßt sich personelle und berufliche Kontinuität bis in die NS-Zeit (und darüber hinaus) belegen.

Von einem bedeutsamen theoretischen Beitrag oder gar einem herausragenden politischen Einfluß Hirschfelds kann, was die Entwicklung eugenischer Vorstellungen betrifft, nach den bekannten Quellen nicht die Rede sein. Auch hier zeigt sich Kratz' mangelhafte Sachkenntnis. Eine "Hirschfeld-Grotjahn-Gruppe" etwa hat es nie gegeben. Bekannt ist lediglich, daß Grotjahn 1913/14 Vorstandsmitglied der von Hirschfeld 1913 mitbegründeten "Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik" war (Kratz spricht fälschlich von einer "Ärztlichen Gesellschaft für Sexualethik und Eugenik"), bis 1925 nahm Grotjahn dann an vier Vereinssitzungen teil. Hirschfeld verlor in der Ärztlichen Gesellschaft bereits 1920 weitgehend seinen Einfluß.

Hirschfelds publizistische und organisatorische Anstiftungen zur eugenischen Einflußnahme beschränkten sich im wesentlichen auf das Ende des Kaiserreichs, sie mündeten 1913 in die Gründung der genannten Ärztlichen Gesellschaft, nennenswert auch seine Teilnahme 1917 an der Diskussion zur Einführung von "Ehegesundeheitsattesten" der "Gesellschaft für Rassenhygiene". Das betrifft auch einige andere, die Kratz als angeblich zentrale Vertreter von Eugenik und Hirschfelds Mitstreiter vorführt. Auffassungen, Positionsbestimmungen und Bestrebungen erfuhren jedoch in der Weimarer Republik bedeutsame Änderungen und Korrekturen. Doch das verschweigt Kratz. Bereits sein Vorsatz, die von ihm Genannten vorrangig als Eugeniker wahrzunehmen, obgleich eugenische Themen lediglich einen zeitweiligen Aspekt ihrer Reformbestrebungen ausmachten, hat fatale Folgen: Das empörend Ärgerliche ist sein Rufmord an der Lebensleistung und den Lebensirrtümern bürgerlicher Gesellschaftsreformer, die unterschiedslos einer dubiosen "Tätergruppe" des späteren Nationalsozialismus zugeordnet werden.

Die Frauenrechtlerin und Philosophin Helene Stöcker z.B. wird von Kratz reduziert auf eine Propagandistin von "Aufartung" und der von ihr geleitete "Bund für Mutterschutz" - der damals radikale Flügel der bürgerlichen Frauenemanzipationsbewegung - zu ihrem Propagandainstrument herabgewürdigt. Ihre Bündnisbestrebungen, die zur Teilnahme des Bundes am Weimarer Kartell 1907/09 führten - auch Hirschfeld war übrigens dabei - erklärt Kratz schlechterdings zu einem "Zusammenschluß derjenigen Freireligiösen die später Adolf Hitler zum Gott ausriefen". Von Stöcker und Hirschfeld, deren Lebenswerk zerstört wurde und die im Exil starben, ist ein derartiger Unsinn nicht bekannt und kaum vorstellbar. Unvermittelt bringt Kratz Kaiserreich und NS-Regime in zeitlichen und personellen Zusammenhang. Analog entstellt er auch die Lebensreformbewegung, die er auf völkische Lebensreform reduziert, um ihr Hirschfeld fälschlich zuzuordnen. Kratz konstruiert willkürlich Zusammenhänge, er begreift Lebenswege als Standbilder. Seine Polemik ist exemplarisch ahistorisch.

Kratz' Argumentationsweise ist auch, was die Gegenwart betrifft, oberflächlich. Er spricht z.B. von "Verfälschungen" im Hinblick auf "die vielen Texte der einflußreichen Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG)". Sie würde mit Hirschfeld "ein Denkmal konstruieren" wollen. Denkmale stehen bereits: Eines wurde in der Berliner Otto-Suhr-Allee vor jenem Haus aufgestellt, wo sich der Gründungsort des WhK befand, ein anderes erinnert am Spreeufer an das zerstörte Hirschfeld-Institut.

Kratz behauptet, Hirschfeld "taugt im Original nicht zum Mahnmal gegen die NS-Schwulenverfolgung" und unterstellt, in seinem Namen könnten daher Entschädigungsforderungen für die NS-Homosexuellenverfolgung nicht geltend gemacht werden. Dieser Bannspruch impliziert eine nachträgliche Selektion von Verfolgten. Eine solche Konstruktion "schuldiger Opfer" wird seit 50 Jahren dazu benutzt, Entschädigungsansprüche abzuwehren. Allein die Tatsache der NS-Verfolgung wegen Homosexualität verpflichtet unterschiedslos zur Entschädigung Auch Kratz' Unterstellung - "Wer Entschädigungszahlungen die Rückgabe der Grundstücke des Instituts will, wie die MHG, muß Hirschfelds Rolle in der Rassenhygiene herunterspielen" - ist abwegig. Oder will er ernsthaft Entschädigungsforderungen für enteigneten Besitz von der Persönlichkeit, der Gesinnung oder dem Lebenswerk der früheren Eigentümer abhängig machen?

(...)

Prinzipiell ist zu fragen, warum Hirschfeld nicht auch mit seinen Irrtümern zum Gedenken und für eine kritisch-zeitgenössische Erbeaneignung taugt. Warum unterstellt Kratz, Hirschfeld müsse ein um Fehlleistungen bereinigtes Idol sein, um als Namensgeber gegenwärtiger Forschungseinrichtungen oder als Erinnerungsfigur zu fungieren? Hirschfeld gibt kein Heiligenbild ab, sein Wirken stellt vielmehr eine produktive Herausforderung dar. Mir scheint, es ist Kratz' Gestus der Entlarvung, der ihn in die Irre führt und an solider Recherche hindert - mit reflexhaften Zügen hat sich ein ideologiekritisches Muster bei ihm verselbständigt.

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